
In der Schweiz stürzen jährlich rund 280'000 Menschen. Im Alter sind die Konsequenzen oft besonders schwerwiegend. Dr. med. Annette Ciurea gibt im Gespräch Auskunft darüber, weshalb die Folgen so gravierend sind und wie sich diese oftmals verhindern liessen.
Ab welchem Alter nimmt die Sturzhäufigkeit zu?
Dr. med. Annette Ciurea: Statistiken zeigen, dass ein Drittel der über 65-Jähigen und bereits jeder zweite der über 85-Jähigen mindestens einmal pro Jahr stürzen. Ein Sturz wird dabei so definiert, dass der Körper aus einer sitzenden Position oder aus dem Stand ins Liegen kommt. Die Stürze in diesen beiden Lebensaltern unterscheiden sich jedoch grundlegend: Ein 65-jähriger oder jüngerer Mensch kommt meistens aus der Bewegung zum Sturz, beispielsweise beim Sport. Beim alten Menschen hingegen findet der Sturz häufig in den eigenen vier Wänden statt. Beispielsweise nachts, wenn die Toilette aufgesucht wird. Es handelt sich also um einen Unfall mit niedrigerer Energie, allerdings sind die Unfallfolgen deshalb nicht geringer.
Wie unterscheiden sich die Verletzungen?
Im jungen Alter sind meistens die Handgelenke und die Knie betroffen, weil sich die Personen beim Sturz abfedern. Im höheren Alter kommt es zu mehrfachen Verletzungen, insbesondere auch am Kopf, weil der Arm zum Schutz beispielsweise nicht mehr hochgenommen werden kann. Auch sind eher die grossen Gelenke betroffen, wie die Schultern, das Becken oder die Rippen. Sehr gefürchtet sind die Schenkelhalsbrüche. Zwanzig bis dreissig Prozent sterben innerhalb von einem Jahr nach dieser Verletzung. Fast die Hälfte erreicht nicht mehr die Mobilität, die sie vorher hatten und die Sturzverletzung ist der häufigste Grund für die Einweisung in ein Pflegeheim.
Was sind die Ursachen für diese Stürze?
Im Alter sind die Knochen brüchiger, die Muskeln sind schwächer und die Nervenbahnen reagieren langsamer. Das Gleichgewicht ist dadurch schlechter ausgeprägt und auch die Reflexe funktionieren nicht mehr so gut. Der Körper wird insgesamt gebrechlicher. Ganz oft nehmen alte Menschen auch sehr viele Medikamente ein, die ebenfalls das Sturzrisiko erhöhen, beispielsweise müde machen, den Blutdruck beeinflussen, zu Schwindelführen usw..
Gibt es auch Umgebungsfaktoren, die das Sturzrisiko erhöhen?
Wir sehen oft, dass die Wohnung Stolperfallen hat, wie lose Teppiche, die Beleuchtung ist schlecht oder der Boden ist insgesamt schlecht ausgeleuchtet. Oftmals sind die Gehhilfen nicht richtig angepasst und behindern eher, als dass sie helfen; das Schuhwerk ist oft ungeeignet. Sehr häufig haben alte Menschen zudem Gleitsichtbrillen, die sehr gefährlich werden können, da sie Treppenstufen nicht richtig anzeigen, denn der Fokus ist unten an der Brille für die Nahsicht eingestellt. Ich rate älteren Menschen deshalb von Gleitsichtbrillen ab.
Was resultiert aus Stürzen – psychologisch betrachtet?
Vor einem Sturz, der zu Verletzungen und Brüchen führen kann, hat es meist eine Sturzvorgeschichte. Das heisst man ist bereits gefallen und entwickelt Angst vor weiteren Stürzen. Diese Angst führt dann dazu, dass sich die Bewegung weiter einschränkt, es werden nur noch kleine Trippelschritte gemacht, der Traningsmangel führt dazu, dass die Muskulatur abgebaut wird. Dieser Teufelskeirs schränkt die Bewegung dann immer mehr ein. Man sollte auf jeden Fall vermeiden, dies abzutun als «ich werde halt einfach älter und unsicher». Dies nicht einfach hinzunehmen, ist ganz wichtig.
Wie könnte man Stürze vermeiden, speziell bei älteren Menschen?
Man kann etwas dagegen tun! Ein wichtiger Faktor ist die Ernährung. Ältere Menschen sollten genügend Eiweisse zu sich nehmen. Lange Zeit waren Eier verpönt, weil sie angeblich den Cholesterinspiegel erhöhen. Tatsächlich haben Eier aber einen sehr hohen Nährwert und sollten beim Frühstück beispielsweise dazu gehören. Dann braucht es ein angepasstes Training. Es gibt Sportgruppen bei der Pro Senectute oder anderen Anbietern. Wer das Haus nicht verlassen kann, soll eine Physiotherapie beanspruchen, die Hausbesuche macht, und dies auf Arztverordnung. Mit der Physiotherapie lässt sich beispielsweise erarbeiten, wie man Treppen hinauf- und hinuntergehen kann und wie man vom Boden aufstehen kann, wenn man gestürzt ist. Der Therapeut bzw. die Therapeutin überprüft auch das Schuhwerk oder gegeben falls die Gehhilfe.
Welche Art von Bewegung ist gut?
Weniger die Art des Trainings ist entscheidend als vielmehr die Intensität. Die Kombination von Kraft, Ausdauer und Gleichgewicht ist zudem wichtig. Das heisst Krafttraining ist gut, um die Muskulatur zu stärken. Tai-Chi oder Tanzkurse wiederum fördern Ausdauer und insbesondere die Koordination. Alles, das die Natur anbietet, ist ebenso positiv, wie wandern, Gartenarbeit, spazieren gehen. Wichtig ist, dass sich alte Menschen Lebensziele setzen. Sich beispielsweise zum Kaffeetrinken treffen, die Enkelkinder hüten, in den Garten gehen und so weiter. Das macht die Lebensqualität aus und verringert die Sturzgefahr.
Was können Angehörige beachten?
Die Rheumaliga oder auch die bfu haben Broschüren zu diesem Thema erstellt. Hinweise lassen sich individuell auf die eigenen vier Wände übertragen.
Was können ältere Menschen noch tun, um weniger sturzgefährdet zu sein?
Ganz wichtig finde ich eine geriatrische Sturzabklärung ab dem 75. Lebensjahr. Auch Hausärzte wissen oftmals nicht, dass es das gibt und wie hilfreich das ist. In dieser Sturzabklärung suchen wir gezielt nach Faktoren, die die Sturzgefahr erhöhen, das heisst wie die Handkraft ist, wir machen eine Ganganalyse, überprüfen die Kognition, die Ernährung und klären auch das soziale Umfeld ab. Aufgrund dieser Analyse können wir dann Empfehlungen abgeben.
Trainierbarkeit im Alter
- Risikofaktoren suchen und behandeln, die zum Sturz führen könnten.
- Vitamin D Mangel behandeln
- Training nützt immer! Drei Stunden pro Woche Kraft, Ausdauer und Gleichgewicht trainieren
- Den alten Menschen fordern und fördern
Broschüren und Informationen zum Thema Sturzprophylaxe
- Kurse ganz in der Nähe und Übungen für jeden Tag: www.sichergehen.ch
- Bfu – Downloads zu den Thema Sturzprävention, Checkliste Wohnumgebung, Gehhilfen, Training ect.: www.bfu.ch/de/ratgeber/ratgeber-unfallverhütung/
- Webseite der Pro Senectute zur Sturzprävetion: pszh.ch/sport-und-bildung/indoorsport/sturzpraevention/
Empfohlene Hilfsmittel
Magazin: Astera Apotheke Dezember 2019